Abrupter (nicht fristgemäβer) Abbruch etablierter Geschäftsbeziehungen: Be- handlung anlässlich der Entscheidung der Handelskammer des französischen Kassationshofes (Cour de cassation, chambre commerciale) vom 24.06.2014 (N° 13-15953)

1. Anspruch nach Artikel L. 442-6-I 5° des Code de commerce/ Kurzdarstellung

Artikel L. 442-6-I 5° des französischen Handelsgesetzbuches (Code de commerce) sieht das dem deutschen Recht unbekannte – und befremdlich wirkende – Rechtsinstitut des sogenannten « abrupten (nicht fristgemäβen) Abbruchs etablierter Geschäftsbeziehungen (rupture brutale des relations commerciales établies) » vor. Letzteres ermöglicht einer Vertragspartei die Geltendmachung eines Schadensersatz- anspruches aufgrund Nichteinhaltung einer vom Richter im Hinblick auf die betreffende Handelsbeziehung als angemessen angesehe- ne Kündigungsfrist durch die andere Vertragspartei.

Insbesondere ist hervorzuheben, dass eine Verurteilung zur Zahlung von Schadens- ersatz selbst im Falle der Beachtung einer vertraglich ausdrücklich vereinbarten Kün- digungsfrist nicht ausgeschlossen ist. Dies wurde erneut von der Handelskammer des französischen Kassationshofes vom 24.06.2014 im Rahmen der Entscheidungs- gründe inzidenter bestätigt, im Einklang mit drei älteren Entscheidungen der Handelskammer, ergangen am 16.01.1996 (N° 93-16.257), am 06.03.2007 (N° 05-18.121) und am 09.07.2013 (N° 12-21.001).

Der französische Richter verfügt über einen Beurteilungsspielraum, welche Frist im Einzelfall als angemessen zu werten ist. Die Dauer der Handelsbeziehung sowie der Grad der wirtschaftlichen Abhängigkeit des Handelspartners, welchem gegenüber die Kündigung erklärt wird, stellen u.a. für die französische Rechtsprechung wichtige Fak- toren für die Beurteilung der Ange- messenheit der Kündigungsfrist dar. Je länger die Dauer der Handelsbeziehung und je gröβer der Grad der wirtschaftlichen Abhängigkeit des Kündigungsempfängers, desto länger die als angemessen eingestufte Kündigungsfrist.

2. Die Entscheidung des Kassationshofes vom 24.06.2014

In der oben zitierten Entscheidung des Kassationshofes vom 24.06.2014 wurde hervorgehoben, dass die Konzessions- inhaberin (und Kündigungsempfängerin), die Gesellschaft Auto Moto Fusion 66, ihrer Darlegungs- und Beweislast im Hinblick auf das Vorliegen einer wirtschaftlichen Abhängigkeit von der Gesellschaft Triumph nicht gerecht worden sei. Insbesondere sei keine Exklusivität vereinbart worden und sie habe über gröβtmögliche Freiheit im Hinblick auf ihre eigene kommerzielle Strategie verfügt. Im Ergebnis verneinte der Kassationshof einen Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz auf Grundlage des Artikels L. 442-6-I 5° des französischen Handelsgesetzbuches. Er hebte hervor,  dass das Berufungsgericht sein Ermessen ange- messen dahin gehend ausgeübt habe, dass die vertraglich vereinbarte Kündigungsfrist von 6 Monaten als ausreichend zu werten sei unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles, insbesondere der fehlenden wirtschaftlichen Abhängigkeit der Ge- sellschaft Auto Moto Fusion 66 von der Gesellschaft Triumph.

Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass Artikel L. 442-6-I 5° des französischen Handelsgesetzbuches insbesondere keine Anwendung auf Handelsvertreterverträge (contrats d’agence commerciale) findet, da Artikel L. 134-11 des französischen Handelsgesetzbuches insoweit folgende spezifische Kündigungsfristen vorsieht: während der Dauer des ersten Vertragsjahres beträgt die Kündigungsfrist einen Monat, ab Beginn des zweiten Vertragsjahres zwei Monate, und ab Beginn des dritten Vertragsjahres drei Monate. Das Ende der Kündigungsfrist fällt (im Falle fehlender abweichender vertraglicher Vereinbarung) auf das Ende eines Kalendermonats.

3. Ausschluss durch Gerichtsstands- vereinbarung/ Schiedsgerichtsklausel?

Eine gewisse Rechtsunsicherheit birgt Artikel L. 442-6-I 5° des französischen Handels- gesetzbuches für deutsche Unternehmen mit Geschäftspartnern in Frankreich auch aufgrund dessen, dass die Handelskammer des Kassationshofes den Anspruch aus Artikel L. 442-6-I 5° des französischen Handels- gesetzbuches seit 2007 ausdrücklich als deliktischen Anspruch qualifiziert. Im Gegensatz dazu scheint die erste Zivilkammer des Kassationshofes zu einer Qualifikation als vertraglichen Anspruch zu tendieren, da sie systematisch Gerichtsstandsvereinbarungen (z.B. zugunsten der deutschen Gerichte) und Schiedsgerichtsklauseln als auf einen Rechtsstreit bezüglich eines Anspruches aus Artikel L. 442-6-I 5° des französischen Handelsgesetzbuches anwendbar erachtet (bzw. die Schiedsgerichtsklausel nicht als offensichtlich unanwendbar (« manifestement inapplicable ») wertet und auf die Kompetenz-Kompetenz des Schiedsrichters verweist).

Die Handelskammer gelangt zwar grundsätzlich zu demselben Ergebnis, dies allerdings in Fällen, in welchen der Wortlaut der betreffenden Gerichtsstandsvereinbarung ohnehin ausreichend weit gefasst ist, so dass die Handelskammer darauf hinweist, es könne dahin stehen, ob es sich bei dem Anspruch aus dem Artikel L. 442-6-I 5° des franzö- sischen Handelsgesetzbuches um einen vertraglichen oder deliktischen Anspruch handele. Eine ausreichende Rechtssicherheit ergibt sich aus dieser – auf den Einzelfall bezogenen – Rechtsprechung allerdings nur bedingt.

Membre du
Barreau de Paris

Avocat à la Cour

Mitglied der
Rechtsanwaltskammer Berlin

Rechtsanwältin