Französisches Gesellschaftsrecht: Entscheidung des Kassationshofes vom 21.04.2022 zu Gesellschafterdarlehen und Artikel L. 223-37 des französischen Handelsgesetzbuches (Code de commerce)

1.)           Einführung

Am 21.04.2022 hat der französische Kassationshof eine Entscheidung (n° 20-11.850) im Hinblick auf Gesellschafterdarlehen (compte courant d’associés) und Artikel L. 223-37 des französischen Handelsgesetzbuches (Code de commerce) erlassen, welche die Rechte von Minderheitsgesellschaftern stärkt. Unter Berücksichtigung dieser Entscheidung sollten Käufer im Falle eines Erwerbs von Anteilen an französischen Handelsgesellschaften besondere Vorsicht im Hinblick auf noch nicht zurückerstattete Gesellschafterdarlehen und die Rechte von eventuell in der Gesellschaft verbleibenden Minderheitsgesellschaftern walten lassen.

2.)           Grundlagen  ̶  der Gesetzestext des Artikels L. 223-37 des Handelsgesetzbuches (sogenannte „expertise de gestion de minorité“)

Das Informationsrecht der Gesellschafter einer Handelsgesellschaft ist ein grundlegendes Recht. Eine angemessene Ausübung der Rechte eines Gesellschafters, insbesondere seines Stimmrechts in Gesellschafterversammlungen, ist nur möglich im Falle des Verfügens über ausreichende Informationen über die Geschäftsführung und die Geschäftstätigkeit der Gesellschaft. Das Recht zur Information kann nach französischem Recht unter gewissen Voraussetzungen sowohl permanent bestehen (Einsicht in die Gesellschaftsunterlagen, Formulierung von schriftlichen Fragen an die Geschäftsführung), als auch periodisch (Senden der Dokumente für die jährliche Gesellschafterversammlung) oder in bestimmten Ausnahmefällen punktuell (Beantragung eines Sachverständigengutachtens hinsichtlich konkreter Fragen der Geschäftsführung).

Im Hinblick auf das punktuelle Informationsrecht gilt gemäss Artikel L. 223-37 des Handelsgesetzbuches (Code de commerce) hinsichtlich der SARL (der deutschen GmbH vergleichbar) Folgendes:

„Ein oder mehrere Gesellschafter, die mindestens ein Zehntel des Gesellschaftskapitals innehaben, können entweder einzeln oder durch Zusammenschluss in beliebiger Form vor Gericht die Bestellung eines oder mehrerer Sachverständiger beantragen, die einen Bericht über eine oder mehrere Geschäftsführungsmaßnahmen vorlegen sollen. […]“.

Gesetzestext: „Un ou plusieurs associés représentant au moins le dixième du capital social peuvent, soit individuellement, soit en se groupant sous quelque forme que ce soit, demander en justice la désignation d’un ou plusieurs experts chargés de présenter un rapport sur une ou plusieurs opérations de gestion.“ 

a)  Entscheidender Zeitpunkt für das Innehaben von mindestens einem Zehntel des Gesellschaftskapitals

Entscheidender Zeitpunkt für das Innehaben von mindestens einem Zehntel des Gesellschaftskapitals durch den oder die Antragsteller ist der Zeitpunkt der Antragstellung an das Gericht (im Einklang mit der Entscheidung des Kassationshofes vom 06.12.2005, n°04-10287).

b)  Begriff der “ Geschäftsführungsmaβnahme“ – organschaftliche Betrachtungsweise

Der Begriff der „Geschäftsführungsmaβnahme/opération de gestion“ wird definiert im Rahmen einer Entscheidung des Kassationshofes vom 25.09.2012 (n° 11-18.312). Das Gericht stellt maβgeblich darauf ab, welches Gesellschaftsorgan die angezweifelte Entscheidung getroffen hat. Nur Beschlüsse der Organe der Geschäftsführung stricto sensu werden als „Geschäftsführungsmaβnahme“ im Sinne des L. 223-37 des Handelsgesetzbuches (Code de commerce), angesehen. Demzufolge können die Minderheitsgesellschafter keine ordentlichen oder ausserordentlichen Entscheidungen der Gesellschafterversammlung auf Basis dieser Vorschrift überprüfen lassen. Demnach wird auch eine Kapitalerhöhung nicht vom Anwendungsbereich des Artikels L. 223-37 des Handelsgesetzbuches (Code de commerce) umfasst. Diese ständige Rechtsprechung wird von der Literatur teilweise kritisiert.

3.)           Zugrundeliegender Sachverhalt und Prozessgeschichte

Ein Gesellschafter, der Gesellschafterdarlehen zugunsten zweier Gesellschaften (einer SARL und einer SAS) erbracht hatte, wollte Informationen über den Verbleib seiner Investitionen erhalten, insbesondere, ob diese im Einklang mit dem Zweck sowie im Interesse der Gesellschaften verwendet wurden.

Gesellschafterdarlehen werden verbucht und müssen zurückerstattet werden. Der Geschäftsführer der Gesellschaft erstellte weder die Buchführung, noch berufte er die jährliche Gesellschafterversammlungen ein oder antwortete auf konkrete Anfragen seitens des Gesellschafters. Letzterer beantragte daher die gerichtliche Anordnung eines Gutachtens über die Geschäftsführung der Gesellschaft, namentlich hinsichtlich der konkreten Verwendung der betreffenden Investitionsbeträge. Des weiteren beantragte der Gesellschafter die Vorlage der Gesellschaftkonten und der Berichte der Geschäftsführung der letzten Jahre.

Sowohl das erstinstanzlich zuständige Handelsgericht (Tribunal de commerce) als auch das Berufungsgericht (Cour d’appel) gaben dem Antrag des Gesellschafters statt. Der Kassationshof wies die Revision des Geschäftsführers und der beiden Gesellschaften im Rahmen der vorliegenden Entscheidung (partiell) zurück. Sie hatten in der Revisionsbegründungsschrift (erfolglos) hervorgehoben, dass die Vereinbarung über ein Gesellschafterdarlehen keine Geschäftsführungsmaβnahme im Sinne des Artikels L. 223-37 des Handelsgesetzbuches (Code de commerce) darstelle.

 

 

4.)           Entscheidung des Kassationshofes im Hinblick auf Artikel L. 223-37 des Handelsgesetzbuches (Code de commerce)

Der Kassationshof hob unter Punkt 5 der Entscheidung hervor, dass der Abschluss einer Vereinbarung über ein Gesellschafterdarlehen, bei dem es sich um eine sogennante „reglementierte Vereinbarung/convention réglementée“ handelt, eine Geschäftsführungsmaßnahme im Sinne des Artikels L. 223-37 des Handelsgesetzbuches (Code de commerce) darstellt.

a)    Originaltext der Entscheidung des Kassationshofes:

„5. La conclusion d’une convention de compte courant d’associé, qui est une convention réglementée, constitue une opération de gestion au sens de l’article précité. 

6. Après avoir relevé, d’une part, que M. [G] a investi dans la société Emergence Bordeaux une certaine somme au titre d’une avance en compte courant, et d’autre part, que cette société n’établit aucune comptabilité, qu’elle ne réunit pas ses associés et que son gérant ne répond pas aux demandes de son associé, l’arrêt retient que M. [G], en sa qualité d’associé, est légitime à s’inquiéter du sort de son investissement et que les dispositions de l’article L. 223-37 du code de commerce l’autorisent à solliciter une mesure ayant pour objet d’examiner une ou plusieurs opérations de gestion. En l’état de ces constatations et appréciations, la cour d’appel a pu ordonner une mesure d’expertise sur le devenir de l’investissement de M. [G]“

b)    Begriff der „reglementierten Vereinbarung/convention réglementée“

Der Code de commerce enthält diverse Vorschriften zur reglementierten Vereinbarung/convention réglementée, Art. L. 223-19 ff. für die Gesellschaftsform der SARL, Artikel L.225-38, L.225-86, L.22-10-2 und L.22-10-29 für die SA (Société anonyme), Artikel L.226-10 für die société en commandite par actions (vergleichbar der Kommanditgesellschaft auf Aktien) und Artikel L.227-10 für die SAS (Société par actions simplifiée). Vereinbarungen, die direkt oder indirekt zwischen der Gesellschaft und u.a. einer der folgenden natürlichen oder juristischen Personen geschlossen werden und ein Risiko für die Gesellschaft darstellen, sind „reglementierte Vereinbarungen“:

·      Geschäftsführer (Gérant/s) einer SARL (Société à responsabilité limitée) sowie deren Gesellschafter;

·      Präsident (Président) und Generaldirektor (Directeur Général) einer SAS (Société par actions simplifiée);

·      Geschäftsführer einer SCA (Société en commandite par actions) sowie die Mitglieder deren Aufsichtsrats (Conseil de surveillance);

·      Mitglieder des Aufsichtsrats, des Vorstands, des Verwaltungsrats, Generaldirektoren und stellvertretende Generaldirektoren einer SA (Société par actions) und einer SE (Société européenne);

·      im Falle einer SAS (Société par actions simplifiée) oder SA (Aktiengesellschaft dualistischer Struktur mit Verwaltungsrat): ein Aktionär mit mehr als 10% der Stimmrechte (natürliche Person) bzw. eine Gesellschaft, die Aktionär ist, wenn sie die betroffene Gesellschaft im Sinne des Artikels L. 233-3 des französischen Handelsgesetzbuches (Code de commerce) kontrolliert.

Gewisse Arten von Vereinbarungen mit oben genannten Personen können je nach Inhalt von vornherein nichtig sein (zum Beispiel im Falle der Bestellung einer Sicherheit durch die Gesellschaft, hinsichtlich einer Verpflichtung eines Gesellschafters im eigenen Namen, Art. L. 223-21 des Code de commerce). Von vornherein erlaubt sind übliche Vereinbarungen im normalen Geschäftsbetrieb, die zu marktüblichen Bedingungen (im Vergleich mit Vereinbarungen mit Dritten) abgeschlossen wurden (on armth’s length basis).

Die reglementierten Vereinbarungen, also solche Vereinbarungen, die weder von vornherein erlaubt noch von vornherein verboten, sowie potentiell riskant für die Gesellschaft sind, unterliegen einem besonderen Verfahren. Um Interessenkonflikte zum Nachteil der Gesellschaft zu vermeiden, bedürfen sie je nach Gesellschaftsform der vorherigen Zustimmung und/oder der nachträglichen Genehmigung des jeweils zuständigen Organs:

·      in einer SA, SE und SCA der vorherigen Information und Zustimmung des Verwaltungsrates (autorisation préalable) und der nachträglichen Genehmigung durch die Hauptversammlung ;

·      in einer SARL der nachträglichen Genehmigung (approbation a posteriori) der jährlichen Gesellschafterversammlung ;

·      in einer SAS sind diejenigen Vorschriften für die SA entsprechend anwendbar, u.U. angepasst durch spezifische Regelungen der Statuten. Nicht vorgesehen für die SAS ist eine vorherige Information und Zustimmung des Verwaltungsrates, falls existent.

In jedem Fall ist für reglementierte Vereinbarungen/conventions réglémentées auch ein Bericht (rapport spécial) des Wirtschaftsprüfers der Gesellschaft, falls vorhanden, erforderlich, der der Gesellschafterversammlung/Hauptversammlung, die den Jahresabschluss feststellt, vorgelegt wird. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass auch solche reglementierten Vereinbarungen Gegenstand eines Antrages gemäβ Artikel L. 223-37 des Handelsgesetzbuches (Code de commerce) sein können, die bereits von der Gesellschafterversammlung genehmigt wurden. Hierbei ist unerheblich, ob der Minderheitsgesellschafter, den den Antrag nach Artikel L. 223-37 des Handelsgesetzbuches (Code de commerce) stellt, den Gesellschafterbeschluss angefochten hat oder nicht. Ebenso ist unerheblich, in welcher Weise er sein Wahlrecht ausgeübt hat.

Der Geschäftsführer oder Gesellschafter einer SARL, welcher Vertragspartei einer reglementierten Vereinbarung ist, ist von der Ausübung seines Stimmrechtes bei der Abstimmung hinsichtlich der betreffenden Vereinbarung ausgeschlossen (Gesetzestext des Artikel L.223-19 Absatz 1 , Satz 3: „Le gérant ou l’associé intéressé ne peut prendre part au vote et ses parts ne sont pas prises en compte pour le calcul du quorum et de la majorité.“)

 

 

c)     Stellungnahme des Kassationshofes

Der Kassationshof bestätigt im vorliegenden Verfahren das Recht des Klägers auf gerichtliche Anordnung eines Gutachtens über die Geschäftsführung der Gesellschaft und auf Vorlage der Gesellschaftkonten und Berichte der Geschäftsführung der letzten Jahre. Er geht davon aus, dass ein Gesellschafterdarlehen, das prinzipiell nicht als üblich angesehen werden kann, nicht als laufendes Geschäft einzustufen ist. Daher unterliegen Gesellschafterdarlehen nach der Ansicht des Kassationshofes wohl regelmäβig dem Verfahren für geregelte Vereinbarungen.

Die vom Kassationsgericht getroffene Entscheidung ist interessant und scheint auch auf französische Aktiengesellschaften übertragbar zu sein. Ob sie als Grundsatzentscheidung zu werten ist, ist allerdings fraglich.

5.)           Kommentar

Im Rahmen eines Unternehmenskaufes mit verbleibenden Minderheitsgesellschaftern muss sich ein Erwerber im Falle der Gewährung eines Gesellschafterdarlehens die Frage stellen, ob das Verfahren für reglementierte Vereinbarungen/conventions réglémentées Anwendung findet.

Wenn das von einem Minderheitsgesellschafter in der Vergangenheit gewährte Gesellschafterdarlehen mit einem Kontrollwechsel nicht zurückgezahlt wird, muss sich der Käufer darüber im Klaren sein, dass dies für den Minderheitsgesellschafter die Möglichkeit eröffnen könnte, detaillierte Informationen über die Unternehmensführung zu erhalten.

 

Zugrundeliegende Gesetzestexte:

Article L223-37

Version en vigueur depuis le 21 septembre 2000

 

Un ou plusieurs associés représentant au moins le dixième du capital social peuvent, soit individuellement, soit en se groupant sous quelque forme que ce soit, demander en justice la désignation d’un ou plusieurs experts chargés de présenter un rapport sur une ou plusieurs opérations de gestion.

Le ministère public et le comité d’entreprise sont habilités à agir aux mêmes fins.

S’il est fait droit à la demande, la décision de justice détermine l’étendue de la mission et des pouvoirs des experts. Elle peut mettre les honoraires à la charge de la société.

Le rapport est adressé au demandeur, au ministère public, au comité d’entreprise, au commissaire aux comptes ainsi qu’au gérant. Ce rapport doit, en outre, être annexé à celui établi par le commissaire aux comptes en vue de la prochaine assemblée générale et recevoir la même publicité.

 

Article L223-26

Version en vigueur depuis le 14 juillet 2017

Modifié par Ordonnance n°2017-1162 du 12 juillet 2017 – art. 10

Le rapport de gestion, l’inventaire et les comptes annuels établis par les gérants, sont soumis à l’approbation des associés réunis en assemblée, dans le délai de six mois à compter de la clôture de l’exercice sous réserve de prolongation de ce délai par décision de justice. Si l’assemblée des associés n’a pas été réunie dans ce délai, le ministère public ou toute personne intéressée peut saisir le président du tribunal compétent statuant en référé afin d’enjoindre, le cas échéant sous astreinte, aux gérants de convoquer cette assemblée ou de désigner un mandataire pour y procéder.

Les documents visés à l’alinéa précédent, le texte des résolutions proposées ainsi que le cas échéant, le rapport des commissaires aux comptes, les comptes consolidés et le rapport sur la gestion du groupe sont communiqués aux associés dans les conditions et délais déterminés par décret en Conseil d’Etat. Toute délibération, prise en violation des dispositions du présent alinéa et du décret pris pour son application, peut être annulée.

A compter de la communication prévue à l’alinéa précédent, tout associé a la faculté de poser par écrit des questions auxquelles le gérant est tenu de répondre au cours de l’assemblée.

L’associé peut, en outre, et à toute époque, obtenir communication, dans les conditions fixées par décret en Conseil d’Etat, des documents sociaux déterminés par ledit décret et concernant les trois derniers exercices.

Toute clause contraire aux dispositions du présent article et du décret pris pour son application, est réputée non écrite.

Membre du
Barreau de Paris

Avocat à la Cour

Mitglied der
Rechtsanwaltskammer Berlin

Rechtsanwältin