Reform des französischen Zivilrechts zum 01.10.2016 – eine französische Revolution?

Eine weitreichende Reform des französischen Vertragsrechts wird am 01.10.2016 in Kraft treten. Annähernd 400 Artikel des Code civil wurden geändert oder neu eingeführt. Auffällig sind einige Annäherungen an das deutsche allgemeine Schuldrecht. Viele Neuerungen stellen eine bloβe Kodifizierung der bisherigen ständigen französischen Rechtsprechung dar, einige könnten aber sogar als “revolutionär” bezeichnet werden.

Die neu eingeführten Vorschriften sind ausschlieβlich auf nach dem 01.10.2016 geschlossene Verträge anwendbar. Ausgenommen sind drei gesetzlich normierte Auskunftsersuchen (actions interrogatoires, im Einzelnen dazu nachfolgend), die ab dem 01.10.2016 auch im Hinblick auf zu diesem Zeitpunkt bereits bestehende Verträge möglich sind.

Jede Art von Verträgen (z.B. AGB, Vertriebsverträge, Kaufverträge, Dienstverträge, Aktionärsvereinbarungen etc.) wird von dieser Reform erfasst. Demzufolge müssen die im Frankreichgeschäft ab dem 01.10.2016 benutzten Vertragsmodelle überprüft und angepasst werden. Im Folgenden wird nur ein ausgewählter Teil der Änderungen dargestellt, diese Abhandlung erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit.

Einführung der Culpa in contrahendo und zwingender vorvertraglicher Informationspflichten

Der neue Artikel 1112 Code civil statuiert einen Schadensersatzanspruch im Falle des Verschuldens bei Vertragsverhandlungen (culpa in contrahendo), der bereits zuvor von der Rechtsprechung anerkannt war.

Artikel 1112-1 Code civil führt eine vorvertragliche Informationspflicht ein. Diejenige Vertragspartei, die über eine Information verfügt, die für die Abgabe der Willenserklärung der anderen Partei von entscheidender Bedeutung ist, ist verpflichtet, der anderen Partei diese Information mitzuteilen, falls diese in gerechtfertigter Weise keine Kenntnis von dieser Information hat oder falls ein Vertrauensverhältnis besteht. Die Schätzung des Wertes der Leistung wird von dieser vorvertraglichen Informationspflicht nicht erfasst.

Diese vorvertragliche Informationspflicht ist vertraglich nicht abdingbar. Rechtsfolge deren Nichtbeachtung kann die Nichtigkeit des Vertrages aufgrund Anfechtung sowie Schadensersatzzahlung sein.

Kollision von AGB: gilt das letzte Wort oder der gemeinsame Nenner?

Gemäβ Artikel 1119 Absatz 2 Code civil sind im Falle sich widersprechender AGB die betreffenden Klauseln unanwendbar. Sie werden durch die allgemeinen rechtlichen Bestimmungen (droit commun) ersetzt, wie auch zuvor durch die ständige Rechtsprechung entschieden. Wie im deutschen Recht gilt auch nach dem französischen Recht nicht das letzte Wort, die AGB beider Teile werden grundsätzlich nur insoweit Vertragsbestandteil, als sie übereinstimmen.

Wichtige Änderung hinsichtlich des Optionsrechtes – für mehr Rechtssicherheit in der französischen M&A Praxis

Gemäβ der bisherigen Rechtsprechung des französischen Kassationshofes war es dem Versprechenden möglich, sich z.B. von seinem einseitigen Verkaufsversprechen zu lösen, bevor der Versprechensempfänger seine Option ausgeübt hatte. Die einzige vom Kassationshof anerkannte Rechtsfolge war der Anspruch des Versprechensempfängers auf Ersatz des ihm insofern entstandenen Schadens, dessen Existenz und Höhe vom Versprechensempfänger zu beweisen war. Einseitige Verkaufsversprechen gingen somit häufig ins Leere.

Die in der M&A Praxis verbreitete call option (Kaufoption) wurde bisher mitunter ausländischem (nicht französischem) Recht unterstellt bzw. mit einer hohen Zahlungsverpflichtung im Falle des Widerrufes versehen (clause de dédit), um den Versprechenden von einem solchen Widerruf des Verkaufsversprechens abzuhalten.

Der neu eingeführte (abdingbare) Artikel 1124 Code civil sieht vor, dass ein Widerruf z.B. des Verkaufsversprechens innerhalb der für die Ausübung des Optionsrechtes festgesetzten Frist nicht mehr möglich ist. Der Vertrag gilt nunmehr mit dem innerhalb der Frist ausgeübten Optionsrecht als geschlossen. Allerdings ergibt sich a contrario aus Artikel 1124 Absatz 3 Code civil eine Ausnahme. Schlieβt der Versprechende einen Vertrag mit einem gutgläubigen Dritten, der in Unkenntnis des bestehenden Verkaufsversprechens handelt, so wird dieser Vertrag wirksam geschlossen. Möglich sind Schadensersatzansprüche des Ver- sprechensempfängers gegen den Versprechenden.

Einführung der Unterscheidung zwischen verhandeltem und nicht verhandeltem Vertrag sowie einer Kontrolle des nicht verhandelten Vertrages – Annäherung an deutsches Recht

Der neue Artikel 1110 Code civil statuiert eine Unterscheidung zwischen dem sog. contrat d’adhésion und dem sog. contrat de gré à gré. Der contrat d’adhésion wird gesetzlich definiert als ein Vertrag, dessen allgemeine Bedingungen von einer Partei einseitig im Voraus gestellt werden und die der Verhandlung entzogen sind. Diese Definition ähnelt teilweise der Definition der AGB im deutschen Recht. Der contrat de gré à gré ist ein ausgehandelter Vertrag und somit der Individualvereinbarung des deutschen Rechtes ähnlich.

Ein wesentlicher Unterschied zum deutschen Recht besteht darin, dass AGB nur vorliegen, wenn zumindest die Absicht der Mehrfachverwendung der Vertragsbedingungen besteht. Dieses Merkmal ist dem französischen contrat d’adhésion, jedenfalls nach dem Gesetzeswortlaut, fremd. Da die Rechtsfolgen bei Vorliegen eines contrat d’adhésion für den Verwender von erheblichem Nachteil sein können, ist davon auszugehen, dass eine Vielzahl von Urteilen die Grenze zwischen contrat d’adhésion und contrat de gré à gré betreffen wird.

Abzuwarten bleibt, ob die französische Rechtsprechung für den Begriff des contrat d’adhésion, ähnlich wie der deutsche Bundesgerichtshof (für den Begriff der verwandten AGB), eine weite Definition vornehmen wird. Für den BGH bedeutet “Aushandeln” (der gesetzliche Begriff) mehr als bloβes Verhandeln und ein inhaltlich ernsthaftes zur Disposition Stellen. Allerdings scheint der neue französische Gesetzestext darauf hinzudeuten, dass eher eine enge Definition des Begriffes des contrat d’adhésion beabsichtigt ist, da die Vertragsbedingungen der Verhandlung “entzogen” sein müssen. Dies deutet nach dem Wortlaut eher auf ein völliges Ausbleiben der Verhandlungen hin. Allerdings ist die Auslegung durch die Rechtsprechung abzuwarten. Beide Parteien eines contrat d’adhésion können Unternehmer sein.

Artikel 1171 Code civil führt die Kontrolle des contrat d’adhésion ein. Verboten sind Klauseln (clauses abusives), die ein erhebliches Ungleichgewicht (déséquilibre significatif) zwischen den Rechten und Pflichten der Parteien hervorrufen, wobei der Hauptvertragsgegenstand sowie die Angemessenheit des Preises der Prüfung nicht unterliegen. Solche Klauseln gelten als ungeschrieben (réputées non écrites), der Vertrag im Übrigen wird aufrechterhalten. Der neue Artikel 1190 Code civil bestimmt, dass Zweifel bei der Auslegung des contrat d’adhésion zu Lasten des Verwenders gehen, inhaltsgleich mit §305c Absatz 2 BGB, im Falle von Zweifeln bei der Auslegung von AGB.

Vorschriften des französischen Handelsgesetzbuches (Code de commerce) und des französischen Verbraucherschutzgesetzes (Code de la consommation) verbieten bereits Klauseln, die ein erhebliches Ungleichgewicht zur Folge haben.

Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass der Bericht für den Präsidenten der Französischen Republik, der den Reformtext begleitet (Rapport au Président de la République : JO du 11-2-2016 texte n° 25) ausdrücklich darauf hinweist, dass die Kriterien für die Bejahung eines erheblichen Ungleichgewichtes nach Artikel 1171 Code civil bereits bekannt seien, da diese von den Kriterien des Verbraucherschutzgesetzes (Code de la consommation) für ein erhebliches Ungleichgewicht abzuleiten seien.

Insofern entsteht der Eindruck, dass das französische Recht sich dem sehr umstrittenen deutschen AGB-Recht nähert. Aufgrund ständiger Rechtsprechung des BGH, insbesondere seit dem Urteil vom 19.09.2007 (VIII ZR 141/06) gilt Folgendes: fällt eine Klausel in AGB bei ihrer Verwendung gegenüber Verbrauchern unter eine Verbotsnorm des §309 BGB (Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit für Verträge mit Verbrauchern), so ist dies ein Indiz dafür, dass sie auch im Falle der Verwendung gegenüber Unternehmern zu einer unangemessenen Benachteilung führt (im Sinne der Generalklausel des §307 BGB, auch anwendbar auf BtoB-Verhältnisse). Diese Rechtsprechung, wonach die Regeln zwischen Unternehmern im Lichte spezifischer Klauseln zum Schutz des Verbrauchers auszulegen sind, gepaart mit der weiten Definition des Begriffes der AGB, führt in der Tat zu einer gewissen geschmälerten Attraktivität des deutschen Rechtes im Hinblick auf die Vertragsgestaltung zwischen Unternehmern.

Ob eine vergleichbare geschmälerte Attraktivität des französischen Rechtes zu entstehen droht, ist abzuwarten. Allerdings scheint, wie bereits zuvor dargestellt, der Begriff des contrat d’adhésion, jedenfalls nach dem Wortlaut des Gesetzes, eher eng auszulegen zu sein. Sollte diese enge Auslegung auch in Zukunft vom Kassationshof bestätigt werden, so dürfte der Anwendungsbereich der neu eingeführten Inhaltskontrolle gemäβ Artikel 1171 Code civil doch relativ begrenzt bleiben.

Einführung der Störung der Geschäftsgrundlage (théorie de l’imprévision)

Eine wichtige Änderung und zugleich Aufhebung der Rechtsprechung stellt der neue (abdingbare) Artikel 1195 Code civil dar, der ein dem deutschen Recht angenähertes Prinzip, das der Störung der Geschäftsgrundlage (§313 BGB), normiert. Eine Vertragspartei kann nunmehr von der anderen Partei die Neuverhandlung des Vertrages verlangen, falls aufgrund geänderter unvorhersehbarer Umstande die Erbringung der Leistung einen exzessiven Kostenaufwand bedeutet, und falls dieses Risiko nicht übernommen wurde.

Verweigert die andere Partei die Neuverhandlung oder bleibt diese erfolglos, so können beide Parteien den Vertrag einvernehmlich beenden. Auβerdem können beide Parteien oder eine Partei die richterliche Anpassung oder Aufhebung des Vertrages beantragen.

Einführung des Verbotes des Insichgeschäftes und der Mehrfachvertretung in das allgemeine Schuldrecht

Die Reform, genauer Artikel 1161 Code civil, führt zu einem generellen Verbot des Insichgeschäfts und der Mehrfachvertretung, auβer, wenn das Gesetz oder der Vertretene den Vertreter insofern besonders ermächtigt. Es entsteht durch die Einführung des Artikels 1161 Code civil eine paradoxe Rechtslage im Hinblick auf gesetzliche Vertreter gewisser französischer Gesellschaften. Das Handelsgesetzbuch enthält in der Tat Spezialregeln im Hinblick auf sog. conventions réglementées, u.a. Verträge, die der gesetzliche Vertreter mit sich selbst und der durch ihn vertretenen Gesellschaft abschlieβt. Im Hinblick auf solche conventions réglementées hat eine Genehmigung durch die Gesellschafterversammlung bzw. Hauptversammlung zu erfolgen. Ausgenommen von dieser Genehmigungspflicht nach dem französischen Handelsgesetzbuch sind jedoch solche Rechtsgeschäfte, die a priori keine Gefahr für die Interessen der Gesellschaft darstellen, namentlich alltägliche Geschäfte zu normalen Bedingungen sowie Verträge zwischen Mutter- und 100%-iger Tochtergesellschaft (conventions réputées libres).

Es entsteht durch die Reform jedoch nunmehr das Risiko, dass gerade die Rechtsgeschäfte, die vom Handelsgesetzbuch a priori als risikolos eingestuft werden, von der generellen Norm des Artikels 1161 Code civil und somit dem Risiko der Nichtigkeit erfasst werden.

Ob die zukünftige Rechtsprechung die Regelung des Handelsgesetzbuches zu den conventions réglementées als abschlieβend erklären wird und somit eine Anwendbarkeit der generellen Norm des Artikels 1161 Code civil auf nicht erfasste conventions réputées libres ausschlieβt, bleibt abzuwarten und ist völlig unsicher.

Es ist dringend zu empfehlen, den gesetzlichen Vertreter einer französischen Gesellschaft ausdrücklich in deren Statuten zum Abschluss von Insichgeschäften und zur Mehrfachvertretung zu ermächtigen, zumindest aber durch einen Beschluss der Gesellschafter- bzw. Hauptversammlung. Diese Praxis ist bereits weit im Hinblick auf das deutsche Recht verbreitet, wo Organe juristischer Personen durch die Satzung häufig von den Beschränkungen des §181 BGB (dem Artikel 1161 Code civil vergleichbar) freigestellt werden.

Erhöhung der Rechtssicherheit: Einführung von neuen schriftlichen Auskunftsersuchen (actions interrogatoires) zur Klärung unklarer rechtlicher Situationen

Zur Verstärkung der Rechtssicherheit wurden drei Auskunftsersuchen eingeführt:

(i) Auskunftsersuchen bezüglich eines vermeintlichen Vorkaufsrechtes (pacte de préférence)

Gemäβ Artikel 1123 Absatz 2 und 3 Code civil kann ein Dritter dem vermeintlich Begünstigten eines Vorkaufsrechtes schriftlich eine angemessene Frist setzen, innerhalb welcher er sich zu äuβern hat im Hinblick auf die tatsächliche Existenz eines Vorkaufsrechtes zu seinen Gunsten, sowie auf seine Absicht, sich auf dieses zu berufen. Äuβert sich der Begünstigte nicht innerhalb der Frist, kann er weder die Nichtigkeit des Vertrages mit dem Dritten behaupten, noch den Abschluss des Vertrages (zu denselben Bedingungen) mit sich selbst beanspruchen.

(ii) Auskunftsersuchen bezüglich der Reichweite der Vertretungsmacht

Artikel 1158 Code civil sieht vor, dass einem vermeintlichen Vertreter vor Vertragsschluss durch die Vertragspartei des (vermeintlich) Vertretenen eine angemessene Frist gesetzt werden kann, zwecks Beibringung des schriftlichen Nachweises der Reichweite seiner Vertretungsmacht. Im Falle der fehlenden Beibringung innerhalb der Frist besteht eine gesetzliche Vermutung für das Vorliegen der Vertretungsmacht zum Abschluss des betreffenden Vertrages.

(iii) Auskunftsersuchen bezüglich Geltendmachung der Nichtigkeit eines Vertrages

Eine Vertragspartei kann nach Artikel 1183 Code civil die andere Vertragspartei auffordern, sich innerhalb einer Frist von sechs Monaten (Ausschlussfrist) entweder auf potentiell bestehende Nichtigkeitsgründe zu berufen oder den Vertrag zu bestätigen. Der betreffende Nichtigkeitsgrund darf nicht mehr fortbestehen. Diese Vorschrift bezweckt die Ausräumung von Zweifeln an der Gültigkeit eines Vertrages.

Membre du
Barreau de Paris

Avocat à la Cour

Mitglied der
Rechtsanwaltskammer Berlin

Rechtsanwältin